Herausgerissen aus dem Leben

Pfalzklinikum erinnert an „Verlegungen“ vor 75 Jahren

Klingenmünster. Deutlich sichtbar – so wünscht sich das Pfalzklinikum den ersten regionalen Gedenk- und Erinnerungstag für die Opfer der NS-Psychiatrie am 10. September; genau 75 Jahre nach der Evakuierung der Heil- und Pflegeanstalt Klingenmünster.

Immer wieder erreichen das Pfalzklinikum Anfragen von Familien der Opfer. Enkel und Urenkel hinterfragen, was damals geschah. Auch hochbetagte Zeitzeugen sprechen zunehmend über ihre Erinnerungen.

Großes Interesse an der dunklen Vergangenheit und dem Nachwirken bis in die Gegenwart haben auch heutige Patienten und Klienten des Pfalzklinikums, die den für 14.15 Uhr geplanten stillen Gang der Erinnerung zum ehemaligen Bahnhof in Klingenmünster mitgehen möchten; unter ihnen eine Gruppe von vier Patientinnen, die an einem kunsttherapeutischen Projekt mitwirken: Sie werden weiße Stofffetzen, Bänder und Schleifen an Bäume am Wegesrand binden – als Symbole für den hastigen Aufbruch der Patienten und Mitarbeiter der Heil- und Pflegeanstalt Klingenmünster vor 75 Jahren. „Die Bänder erinnern an all jene, die nicht mehr zurückgekommen sind und an all das, was schmerzlich zurückgelassen werden musste sind: Herausgerissen aus dem Leben“, sagt Kunsttherapeutin Elisabeth Moser.

Mit dabei sein wird auch Vanessa V., die einen kleinen pfälzischen Sandstein für den am 2. September eingeweihten zentralen Gedenk- und Erinnerungsort in der Berliner Tiergartenstraße gestaltete: für die Opfer der nationalsozialistischen »Euthanasie«-Morde. Einen weiteren Sandstein hat sie für die Pfälzische Gedenkstätte in Klingenmünster bemalt und sie wird ihn vor dem stillen Marsch zum Bahnhof am Dokumentationszentrum niederlegen.

Dr. Michael Brünger, geschäftsführendes Mitglied des Ausschusses für Gedenkarbeit, wird an den „chaotischen Aufbruch“ vor 75 Jahren und seine Folgen erinnern.

Die Teilnehmer gehen jenen Weg, den die Patienten und Mitarbeiter 1939 gingen, die damals neue Weinstraße entlang. Sie hoffen, dass sich viele Bürger aus Klingenmünster und Umgebung anschließen, dass sie nicht wegsehen, sondern hinschauen auf das, was damals war, was heute ist und wie sich eine lebenswerte Zukunft für alle gestalten lässt. Gern können Bürger der Region ebenfalls weiße Stofffetzen mitbringen, um sich dem Projekt der Patientinnen anzuschließen.

Wenn die Teilnehmer im Zeitraum zwischen 14.45 und 15.15 Uhr das Dorfzentrum passieren, wird die Weinstraße wenige Minuten für den Verkehr gesperrt.

Nach der Rückkehr der Teilnehmer vom Bahnhof, voraussichtlich gegen 16 Uhr, zeigt das Chawwerusch Theater im historischen Hauptgebäude des Pfalzklinikum die Szene "Leere Betten". Schauspieler des Ensembles werden den Zeitzeugenbericht einer Krankenschwester vorstellen.

Der Saxofonist Peter Damm wird die Veranstaltung mit freien Improvisationen umrahmen.

Mit der Möglichkeit zum Austausch endet der Gedenk- und Erinnerungstag.

Zum Hintergrund:
Was geschah am 10. September 1939? Zehn Tage nach dem Überfall Hitler-Deutschlands auf Polen griffen die Verantwortlichen massiv in das Leben der Menschen in der Heil- und Pflegeanstalt Klingenmünster ein: Die Anstalt wurde geräumt und in ein Lazarett umfunktioniert. 1251 Patientinnen und Patienten mussten unter Aufsicht von Krankenpflegern und -schwestern zu Fuß zum Bahnhof Klingenmünster gehen. Von dort brachten zwei Sonderzüge sie nach Bayern in die rechtsrheinischen Anstalten, u. a. nach Regensburg, Erlangen und Mainkofen. Damit begann für viele der Weg in den Tod.

Treffpunkt ist um 14.15 Uhr am Dokumentationszentrum an der Klinikeinfahrt. Die Veranstaltung wird voraussichtlich gegen 17 Uhr zu Ende sein.